Michaela Paefgen-Laß

Lesung mit Ruth Klüger in der Mainzer Synagoge

unterwegs verloren

Ruth Klüger liest in Mainzer Synagoge

„Mit dem Älterwerden weichen auch die Gespenster zurück“, so beginnt der zweite Teil der Autobiografie der in Amerika und Deutschland lebenden und lehrenden Literaturwissenschaftlerin und Feministin Ruth Klüger. Die Gespenster im Leben der 82-Jährigen sind: der mit 17 Jahren von der Mordmaschinerie der Nazis getötete Bruder „Schorschi“, die Jahre der Verschleppung und Gefangenschaft in Theresienstadt, Auschwitz und dem Arbeitslager Christianstadt und, das lebenslang gespaltene Verhältnis zur paranoiden Mutter.

Ruth Klüger lässt diese Gespenster am Dienstagabend in der Neuen Synagoge genauso wenig durchblicken wie ihr vorangeschrittenes Alter. Sie ist Gast des Festivals „Hip im Exil“ und liest aus „unterwegs verloren. Erinnerungen“. Darin erzählt sie ihr Leben nach dem Holocaust in Amerika Revue. Ehe, Scheidung, Kinder und das Studium der Germanistik. Über die deutsche Literatur und Lehraufträge an amerikanischen Universitäten findet sie allmählich zurück zur deutschen Sprache und schließlich auch nach Deutschland.

Ruth Klüger liest mit einem wohlklingenden Wiener Akzent. Sie spricht schnell, klar und vital. Viele junge Menschen hören den energischen Gedanken und Bildern der Frau zu, die nicht „Opfer“ sein will, die in der Öffentlichkeit deutliche Worte spricht gegen „Mahnmal-Verkitschung“ und Rituale des Erinnerns. „Wir haben überlebt, wir sind nicht berechtigt zu verzeihen, die eigentlichen Opfer, das sind die Toten“, wird sie ihre Lesung mit anschließender Diskussionsrunde beenden.

Als Elfjährige wird die Tochter eines jüdischen Frauenarztes mit ihrer Mutter aus der Heimatstadt verschleppt. Der Vater ist bereits 1938 nach dem Anschluss Österreichs nach Frankreich geflohen. Er wird in Auschwitz 1944 in Auschwitz ermordet. Halbbruder Jiri wird aus Prag nach Riga deportiert und dort in einem Massaker der Deutschen erschossen.

Die Erinnerungen an eine Kindheit in der Neubaugasse im 7. Wiener Bezirk sind Erinnerungen an Ausgrenzung und Erniedrigung. Die verlorene Kindheit hat sie vor rund 20 Jahren in dem Buch „weiter leben. Eine Jugend“ schonungslos beschrieben. Das Leben, so sagt sie, lasse sich in kein Raster pressen. Es sei vom Zufall bestimmt. Zu diesen Zufällen zählt sie den großen Erfolg jenes ersten Buches. „Ich bin Literaturwissenschaftlerin, die einmal eine Autobiografie geschrieben hat.“ Einen Zufall nennt sie auch ihr Überleben im Konzentrationslager. Bei der Selektion in Auschwitz flüstert eine KZ-Schreiberin ihr zu, sie solle sich zwei Jahre älter machen. So entkam das 13-jährige Mädchen dem Tod.

Wie lebt ein Mensch mit diesen Gespenstern? Ruth Klüger hat zwei Bücher geschrieben, aber sie gibt zu, nicht viel geredet zu haben. „Diese Geschichte ist unbegreiflich, ambivalent, zutiefst pessimistisch.“ Sie sehe auch nicht ein, warum ihre eigenen Kinder von ihrer Geschichte traumatisiert sein sollten. „Das geschieht doch nur, wenn man sie mit der Nase immer wieder auf diese Themen stößt“.

Als sie aus dem Publikum gefragt wird, was sie davon halte, dass junge Menschen in Israel sich die KZ-Nummern ihrer Großeltern eintätowieren lassen, reagiert sie empört.

Ihre eigene KZ-Nummer, diese „Mahn- und Hundemarke“ hat sie im späten Alter in Kalifornien weglasern lassen. Damit beginnt „unterwegs verloren“. Ihren Gespenstern sei sie diese zufällige, nichts nutzende Zahlenfolge nicht länger schuldig gewesen. Mit der ihr eigenen klaren, präzisen und unsentimentalen Sprache schreibt sie in „unterwegs verloren“: „Die Nummer hat immer nur mit mir und den Ermordeten zu tun gehabt, und ich wünschte mir ein paar Jahre mit kurzen Ärmeln in der Sonne“.

(Allgemeine Zeitung, März 2013)

Bild: Privat

Buchcover: Hanser Literaturverlage

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Michaela Paefgen-Laß

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